2020/12/03

Digitale Barrierefreiheit – nicht nur Pflicht, sondern Chance

Autor*innen: Christiane Hahnsch & Marko Kreuzmann

"Jetzt müssen wir, das Gesetz schreibt es ja vor“ – so ist der Tenor vieler Anfragen, die uns als Digitalagentur zum Thema Barrierefreiheit erreichen. Sie zeigen, dass Barrierefreiheit für Online-Auftritte nach wie vor eher als eine Pflicht angesehen wird. Dabei ist es für Unternehmen und Organisationen nötig, digitale Barrierefreiheit als Chance zu betrachten. Denn barrierefreie Produkte und Services, die alle Nutzer*innen an der digitalen Welt teilhaben lassen, sind nicht nur Pflicht, sondern vor allem vorteilhaft. 

Was ist digitale Barrierefreiheit und welche Gesetze schreiben sie vor?

Derzeit erhalten wir zahlreiche Anfragen für Tests auf Barrierefreiheit von Websites, Apps oder Fachanwendungen. Neue Services und Produkte sollen barrierefrei gestaltet und bereits bestehende Produkte und Services sollen nachträglich „barrierefrei gemacht“ werden. Diese Entwicklung und das Interesse ist wunderbar, denn es zeigt, dass die bestehenden Regularien und gesetzlichen Bestimmungen wirken.

Die Gesetzeslage zur Barrierefreiheit umfasst verschiedene Quellen, die sich dem Thema aus unterschiedlichen Perspektiven nähern.

  • Der Wunsch nach einer barrierefreien und inklusiven Gesellschaft, in der niemand ausgegrenzt wird, ist bereits im Grundgesetz (GG) verankert: „Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.“ (Art. 3, Abs. 3)
  • Das Behindertengleichstellungsgesetz (BGG) beschreibt das Idealbild für eine barrierefreie Gesellschaft im digitalen und analogen Raum: Systeme sollen für Menschen mit Behinderung „in der allgemein üblichen Weise, ohne besondere Erschwernis und grundsätzlich ohne fremde Hilfe auffindbar, zugänglich und nutzbar“ sein (§4). Barrierefreiheit im Web kann somit als das Zugänglichmachen sämtlicher Inhalte für alle Mitglieder der Gesellschaft verstanden werden.
  • Der internationale Maßstab für Barrierefreiheit im Web ist die Europäische Norm 301 549, die sich von den Web Content Accessibility Guidelines (WCAG) 2.1  ableitet (Level A und AA).
  • Spezifisch für Deutschland gibt es zudem die Barrierefreie-Informationstechnik-Verordnung (BITV), die auf die EN 301 549 und somit auch auf die WCAG 2.1 verweist. Mit derzeit 60 Prüfschritten gibt der BITV-Test des Vereins BIK (Barrierefrei informieren und kommunizieren) detailliert vor, welche Eigenschaften und Funktionen Websites besitzen müssen, um barrierefrei zu sein.
  • Die Barrierefreiheit von Webauftritten und Apps ist für öffentliche Stellen bereits verpflichtend und wird es auch für die Privatwirtschaft sein, die spätestens ab 2025 nachziehen muss (EU-Richtlinie 2019/882).

Diese vielfältigen gesetzlichen Regelungen sind wichtig und wirkungsvoll. Zum einen, weil sie öffentlich agierende Akteure verpflichten, bezogen auf Inklusion ganzheitlich zu denken, und zum anderen, weil sie eine hohe Außenwirkung haben und die Bedeutung von Barrierefreiheit für die Gesellschaft hervorheben.

Die Nutzer*innen im Fokus: Barrierefreiheit wird immer relevanter

Barrierefreiheit ist jedoch nicht nur Pflicht, sondern vielmehr eine Chance. Sie gibt Unternehmen und Organisationen die Möglichkeit, mehr Mitglieder ihrer Zielgruppen zu erreichen und die Nutzung digitaler Produkte für sie und alle anderen zu vereinfachen. In der Zusammenarbeit mit unseren Kunden handeln wir dabei nach diesem Grundsatz:

“Gestalte so, dass du jeden Menschen auf diesem Planeten erreichst.“

Phil Gilbert
General Manager, IBM Design

Dabei geht es nicht nur um das reine Design in Form von Konzept und visueller Gestaltung. Unter dem Begriff „Design“ verbirgt sich der komplette Prozess eines Projektes, den alle Gewerke mitgestalten und zu dem sie ihren Teil beitragen: von der Beratung, über die Konzeption bis zur Redaktion, dem Design und der Umsetzung im Frontend. Der Grundsatz impliziert außerdem, dass Menschen mit und ohne Behinderung (digitale) Lebensbereiche gleichberechtigt nutzen können. Dadurch wird (wenn auch unbewusst) die Brücke zum BGG geschlagen –ganz im Sinne einer Lösung für alle.

Bei der Arbeit im digitalen Raum dürfen besonders Menschen mit folgenden Behinderungen nicht vergessen werden: Blindheit und Sehschwäche, Taubheit und Hörschwäche sowie Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen oder einer eingeschränkten Motorik der Finger, Hände und Arme. Sie alle nehmen Inhalte im Netz anders wahr, benötigen Alternativen für bestimmte Medienformate und navigieren anders als prototypische Nutzer*innen, zum Beispiel mit einem Screenreader oder einer Bildschirmlupe und per Tastatur statt mit der Maus.

Behinderungen in Deutschland und weltweit –was sagen die Zahlen?

Wie relevant das Thema Barrierefreiheit ist, zeigt ein Blick auf die Zahlen: Allein in Deutschland gibt es7,9Mio. Schwerbehinderte, was einer Schwerbehindertenquote von 9,5 Prozent der Bevölkerung entspricht (Destatis, 2020). Wichtig zu wissen: Behinderungen sind in Deutschland nicht meldepflichtig. Wir können also davon ausgehen, dass die tatsächliche Anzahl von Behinderungen unterschiedlicher Schweregrade höher ausfällt.Weltweit ist die Quote sogar noch höher als in Deutschland: Rund 15 Prozent der Weltbevölkerung haben eine Behinderung (WHO, 2018).Hinzu kommt, dass wir in einer alternden Gesellschaft leben und 96 Prozent aller Behinderungen erst im Laufe des Lebens erworben werden, meist aufgrund von Krankheiten(Statistisches Bundesamt, 2020).

Warum ist Barrierefreiheit nützlich und wichtig für Unternehmen?

Abseits von den gesetzlichen Regularien und den Zahlen gibt es weitere gute Gründe, warum digitale Barrierefreiheit schon jetzt für jedes Unternehmen relevant und sogar gewinnbringend ist.

1.  Barrierefreie Produkte erweitern die Zielgruppen

Es gibt nicht nur permanente Behinderungen, sondern auch solche, die temporär oder nur in bestimmten Situationen vorliegen. Denn Barrierefreiheit ist auch kontextabhängig: Eine Armverletzung, ein lautes Umfeld, ein schwer zu verstehender Akzent oder eine schwere Tasche in der Hand –in vielen Situationen des Alltags sind auch Menschen ohne Behinderungen plötzlich eingeschränkt. Alle Interaktionen mit Technologie hängen stark davon ab, was wir sehen, hören, sagen und berühren können.In bestimmten Situationen oder Lebenslagen stehen uns nicht alle dieser Sinne und Fähigkeiten vollständig zur Verfügung. Wenn also mit der Annahme gearbeitet wird, dass Nutzer*innen nicht immer alle Sinne verwenden können, kann eine weitaus größere Gruppe an Menschen für Angebote gewonnen und inkludiert werden.

2. Barrierefreiheit mitdenken spart Kosten

Nicht neu, aber immer noch aktuell: Wer Barrierefreiheit von Anfang an im Projekt einplant, gewinnt Zeit und spart Kosten. Denn die potentiellen Optimierungen, die nötig sind, um ein Produkt nachträglich möglichst barrierearm zu gestalten, sind wesentlich aufwändiger und langwieriger als eine klare Verpflichtung zu Barrierefreiheit und die dementsprechende Planung für alle Gewerke von Anfang an. Während barrierefreier Content notfalls auch nachträglich noch geschrieben und eingepflegt werden kann, führen eine programmatisch nicht sauber umgesetzte Website ohne valides und semantisches HTML oder die fehlende Möglichkeit, die Website mit der Tastatur zu bedienen, oft zu umfangreichen und somit teuren Nachbesserungen.

3. Barrierefreiheit stärkt das Branding

Das Bewusstsein von Konsument*innen bzw. Nutzer*innen erweitert sich dahingehend, dass nicht nur die Produkte und Dienstleistungen, sondern auch die Werte hinter einer Marke oder Organisation immer relevanter werden. Derzeit gibt ein Drittel der Deutschen an, dass ihr Kauf-bzw. Nutzungsverhalten auch von der gesellschaftspolitischen Einstellung einer Organisation oder Marke abhängt (Mindline Media, 2019). Mit dem Thema Barrierefreiheit offen umzugehen, Menschen mit Behinderungen aktiv und bewusst einzuschließen, Produkte einer größeren Zielgruppe zugänglich zu machen und laufende Prozesse zu hinterfragen, ist in der Breite noch kein gelebter Standard. Umso wichtiger ist es, als Marke oder Organisation Verständnis für die Zielgruppen zu zeigen und als Vorreiter den Ton für eine inklusive Gesellschaft anzugeben.

4. Barrierefreiheit ist gut für die Suchmaschinenoptimierung

Eine barrierefreie Website-Struktur sorgt ganz nebenbei auch noch für die Suchmaschinenoptimierung der Inhalte und somit für eine höhere Sichtbarkeit der eigenen Angebote im Web. Denn gut strukturierte Texte mit einer funktionierenden Überschriftenhierarchie und korrekt ausgezeichneten Strukturelementen wie Tabellen und Listen können nicht nur von Screenreadern, sondern auch von Webcrawlern besser erfasst werden. Und auch Suchmaschinen lesen Alternativtexte und Dateinamen von Bildern, um diese korrekt erfassen und indexieren zu können. Zudem sorgen gut verständliche und leicht lesbare, kurze Textblöcke nicht nur für eine positive Leseerfahrung der Nutzer*innen, sondern vielleicht auch für das ein oder andere Top-Ranking bei Google und die prominente Ausspielung als Featured Snippet vor allen anderen Suchergebnissen. Dies begünstigt auch, dass das Ergebnis bei der immer beliebteren Sprachsuche (Voice Search) eher vorgelesen wird.

Barrierefreiheit bei IBM iX und IBM – gemeinsam digitale, inklusive Produkte entwickeln

Als Berliner Digitalagentur und als Tochterunternehmen von IBM begleiten wir die digitale Transformation von größeren Unternehmen und Organisationen. Dabei erhalten wir einerseits Einblicke in Themen, die den Markt bewegen und tragen anderseits unseren eigenen Teil dazu bei, Themen in der Praxis voranzutreiben, die aus Nutzer*innen-Perspektive gerade relevant sind. Dazu gehört in immer stärkerem Maße die digitale Barrierefreiheit. Auch wir selbst haben zum Beispiel bei unserer eigenen Website das Thema nicht in dem Maße mitgedacht, wie es nötig gewesen wäre –aber wir haben dazugelernt, verbessern uns stetig und verbreiten in unserer Agentur Empathie und Wissen zu Barrierefreiheit.

Ein wichtiger Schritt war für uns, das Thema Barrierefreiheit nicht mehr als Silo zu betrachten.Wir wollen nicht, dass nur wenige Personen darauf spezialisiert sind, sondern dass alle Mitarbeiter*innen Grundwissen zur Thematik besitzen und wissen, was sie tun können.Uns geht es darum, dass alle mit gestalten. Denn Wissen singulär, also schlimmstenfalls nur bei einer Person im Unternehmen zu bunkern,bringt niemandem etwas. Eine Person kann niemals Spezialist*in für das Thema und alle Gewerke sein. Außerdem geht dem Unternehmen das gesamte Wissen verloren, sollte es zu Krankheit, längerer Abwesenheit oder einem Arbeitsplatzwechsel kommen. Darum haben wir bei IBM iX eine Arbeitsgemeinschaft mit Mitgliedern aus verschiedenen Disziplinen gegründet, die regelmäßig zusammenkommen, um das Thema innerhalb der Agentur und darüber hinaus voranzutreiben. In dieser Gruppe gehen wir zentrale Themen an:

  • Wir wechseln die Perspektive hin zu den Nutzer*innen.
  • Wir bauen Wissen in der Tiefe auf und bilden uns stetig weiter.
  • Wir verteilen das Wissen in der Breite, sensibilisieren und befähigen unsere Kolleg*innen.
  • Wir etablieren Barrierefreiheit im Projektalltag und machen sie selbstverständlich.

Barrierefreiheit ist somit einseitig wachsender und integraler Bestandteil unserer Arbeit geworden.Dieser Ansatz trägt Früchte. Sei es, mit Vorurteilen in Organisationseinheiten aufzuräumen oder Wissen in interdisziplinären Projektteams weiterzugeben. Und auch unsere Kund*innen profitieren von unserem immer aktuellen Wissen und unserer wachsenden Praxiserfahrung. Abseits von der Umsetzung barrierefreier Produkte und der Durchführung von Testings schulen wir Projektteams generell oder gewerksspezifisch zum Thema Barrierefreiheit und konnten ein großes Interesse und eine Änderung des Blickwinkels auch auf Kundenseite beobachten.

Inzwischen sollte allen klar sein: Barrierefreiheit ist nicht nur eine Pflicht, sondern eine Chance für Unternehmen und öffentliche Träger. Zudem ist sie ein wichtiger Beitrag für die Zukunft, gewissermaßen ein Geschenk an uns selbst: Denn wenn wir barrierefrei entwickeln und gestalten, tun wir dies nicht nur für unsere Großeltern, Freund*innen und die Zielgruppen unserer Organisation, sondern natürlich auch für unser zukünftiges, alterndes Selbst.

Über die Autor*innen: 

Marko Kreuzmann ist Associate Director und Team Lead der Account Partner im IBM iX Studio in Berlin. Er arbeitet hauptsächlich in der Projektsteuerung mit Kunden aus dem öffentlichen Sektor. Darüber hinaus ist er Gründer der Barrierefreiheits-Arbeitsgemeinschaft bei IBM iX.

Christiane Hahnsch ist Junior Content Designer (Online-Redakteurin) bei IBM iX. Ihre Hauptaufgabe ist die Analyse, Konzeption und Erstellung redaktioneller Inhalte für Websites. Als Mitglied der Barrierefreiheits-Arbeitsgemeinschaft schult sie regelmäßig Agenturkolleg*innen und Kund*innen zu barrierefreiem Content.

 

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