2022/10/17

Digitale Krankenkasse – so wird Nutzerzentrierung nicht zur Innovations-Falle

Autor: Jan Pilhar

Digitale Services prägen heute unser Leben in fast allen Bereichen. Dies gilt auch für Krankenkassen – durch die Verlagerung von Prozessen in den Self-Service bieten digitale Krankenkassen Versicherten einfachen und schnellen Zugang zu Angeboten und Diensten und großes Potenzial für eine höhere Effizienz und Kosteneinsparungen. Um bei der jungen Zielgruppe zu punkten, stellen digitale Angebote zudem ein starkes Differenzierungsmerkmal auf dem Markt dar.

Digitale Services prägen heute unser Leben in fast allen Bereichen, auch aus dem Gesundheitssektor sind sie nicht mehr wegzudenken. Dies gilt auch für Krankenkassen, für die sie eine immer wichtigere Rolle spielen. Sie ermöglichen Versicherten einfachen und schnellen Zugang zu Angeboten und Diensten, was sich nicht zuletzt in der Pandemie als wichtig erwiesen hat. Durch die Verlagerung von Prozessen in den Self-Service bieten sie großes Potenzial für eine höhere Effizienz und Kosteneinsparungen. Zudem wird das Angebot an digitalen Diensten für Krankenkassen immer stärker zum wichtigen Differenzierungsmerkmal für die eigene Marke, denn ohne ein attraktives digitales Angebot kann man insbesondere bei der stark umworbenen jungen Zielgruppe nicht mehr punkten.

Digital Teams mit einem Fokus auf Nutzerbedürfnisse

Entsprechend haben insbesondere die großen Krankenkassen in den letzten Jahren massiv in die Digitalisierung ihrer Kundenschnittstellen investiert und für diesen Bereich häufig dezidierte Teams aufgebaut. Diese „Digital Teams“ entwickeln digitale Dienste für die Versicherten und haben in der Regel einen User Experience (UX)-Schwerpunkt. Sie arbeiten meist mit den gängigen Methoden der nutzerzentrierten Entwicklung, geprägt durch die Prinzipien des Design Thinking und Service Designs. Dieser Innovationsansatz bezieht seine Inspiration vor allem aus der Identifizierung von (unerfüllten) Nutzerbedürfnissen und aktuellen Unzulänglichkeiten in bestehenden Angeboten und Prozessen – so genannten „Pain Points“ – und leitet daraus Ideen und Ansatzpunkte zur Verbesserung und Weiterentwicklung ab.

Krankenkassen haben bei der Customer Experience Fortschritte gemacht

Die Einführung dieser Herangehensweise war für die meisten Krankenkassen methodisch ein Quantensprung im Rahmen der eigenen Digitalisierungsbemühungen. Prägten bislang vor allem auf Features, Stabilität und langfristig geplante Release-Zyklen bedachte IT-Abteilungen die meisten digitalen Entwicklungsthemen, brachten die Digital Teams mit einer neuen Agilität und der konsequenten Berücksichtigung der Nutzerperspektive frischen Wind mit. Diese Neuerung führte zu guten Ergebnissen, so dass sich heute das digitale Kundenerlebnis vieler Krankenkassen – die vielbeschworene Customer Experience – sehen lassen und in vielen Fällen mit dem Angebot von Konsumgüterherstellern oder eCommerce-Anbietern mithalten kann.

Digitale Gesundheitsinfrastruktur bietet neue Potenziale

Nun befinden wir uns im Gesundheitsbereich aber bereits in einer neuen Phase digitaler Innovation, in der der gegenwärtig dominante Ansatz vieler Digital Teams zu kurz greift. Damit Krankenkassen das Potenzial der aktuellen digitalen Entwicklung ausschöpfen können, müssen sie ihre Innovationsmethodik erneut nachschärfen und erweitern. Sonst droht der mittlerweile etablierte Fokus auf Nutzerzentrierung zur Innovationsfalle zu werden.

Die nächsten digitalen Innovationssprünge im Gesundheitswesen und insbesondere im Bereich der Krankenkassen werden nicht mehr aus der Ermittlung weiterer User Needs und Pain Points kommen. Sie resultieren vielmehr aus den Möglichkeiten der digitalen Gesundheitsinfrastruktur, die die Krankenkassen im Verbund mit anderen Akteuren des Gesundheitswesens aktuell aufbauen. Diese so genannte Telematikinfrastruktur (TI) ist die infrastrukturelle Basis für aktuelle und zukünftige digitale Gesundheitsdienste in Deutschland und ermöglicht Anwendungen wie die elektronische Patientenakte, das elektronische Rezept, eine bessere Kommunikation zwischen Ärzten und Ärztinnen, Kliniken, Labors und Kassen. Sie ist Ergebnis der gemeinsamen Kraftanstrengung dieser Akteure, um bei der Digitalisierung des Gesundheitswesens endlich voranzukommen. Die TI bietet neue Ansatzpunkte, um auf Basis von Versichertendaten innovative digitale Angebote für Versicherte zu entwickeln, die weit über vereinfachte Zugangswege und ein verbessertes Kundenerlebnis hinausgehen.

Datenanalyse und maschinelles Lernen als Schlüssel

Um diese neuen Möglichkeiten zu nutzen, wird es für Krankenkassen künftig weniger darum gehen, dass Versicherte das richtige Formular schneller online ausfüllen oder eine Bescheinigung auch auf dem mobilen Endgerät herunterladen können. Diese Basis-Anforderungen sind mittlerweile – zumindest bei den fortschrittlichen Kassen – meist schon gut gelöst. Jetzt müssen den Versicherten Services geboten werden, die einen echten Beitrag zu mehr Gesundheit leisten. Die TI ermöglicht in Kombination mit modernen Ansätzen der Datenanalyse und des maschinellen Lernens völlig neue Wege im Gesundheitsmanagement. Die Innovationsmöglichkeiten, die sich daraus ergeben, beispielsweise individuelle Risiko-Analysen und prädiktive Empfehlungen für Versicherte auf Basis von Gesundheitsdaten, können nur schwer aus aktuellen unbefriedigten Bedürfnissen abgeleitet werden. Dies gelingt mit Hilfe von Kohorten-Analysen, durch die Versicherte ihren relativen Gesundheitszustand verstehen lernen können. Auch lassen sich Nebenwirkungen vermeiden, indem eine automatisierte Überprüfung möglicher Medikations-Wechselwirkungen erfolgt. Für all diese Ansätze gilt Steve Jobs berühmtes Bonmot: „Die Menschen wissen nicht, was sie wollen, bis man es ihnen zeigt.“

So rüsten sich Krankenkassen für die Zukunft

Das wiederum heißt für die Digital Teams der Krankenkassen, dass sie ihren Fokus auf Nutzerzentrierung und User Needs um ein kontinuierliches Monitoring der neu entstehenden technologischen Möglichkeiten ergänzen müssen. Neben User Research sollten sie auch die Roadmaps der Gematik sowie ihrer Software- und Solution-Partner stärker als bisher in den Blick nehmen, um daraus neue Ansätze für die weitere Gestaltung ihres digitalen Angebots ableiten zu können. Dies erfordert auch ein tieferes technologisches Verständnis als es bislang in vielen UX-orientierten Teams vorhanden ist. Die Teams sollten dementsprechend einen noch engeren Schulterschluss mit den IT-Abteilungen suchen und sie nicht nur als Partner für die Ausspielung von neuen Releases, Hosting und Sicherheit sehen, sondern als echte Innovationspartner.

Customer Needs und moderne Technologie – die Mischung macht‘s

Dabei geht es nicht darum, die kulturell teilweise hart erkämpfte Öffnung hin zur Nutzerzentrierung wieder umzukehren. Im Gegenteil: Natürlich bleibt Nutzerzentrierung wichtig, denn nur Dienste, die intuitiv und leicht bedienbar sind, stoßen auf breite Akzeptanz. Es geht vielmehr darum, zu verstehen, dass Service-Ideen künftig nicht mehr in erster Linie durch die Customer Needs der Versicherten entstehen werden. Immer häufiger werden neue technologische Möglichkeiten der Analyse und Verknüpfung von Versorgungsdaten der Ausgangspunkt für digitale Innovationen mit echtem gesundheitlichem Mehrwert sein. Genau darin besteht die Weiterentwicklungsaufgabe für diejenigen, die in Krankenkassen das digitale Service-Angebot verantworten. Krankenkassen, denen dieser erneute Wandel von Mindset und Innovationsansatz gelingt, werden echten Mehrwert für ihre Versicherten schaffen. Sie werden zu digitalen Vorreitern der kommenden Jahre – mit digitalen Services, die nicht nur das Leben vereinfachen, sondern im Idealfall auch verlängern.

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